Aus dem Alltag von … Steffen Kiemel
Ein Gespräch über nachhaltige und biointelligente Lösungen für die Industrie
Steffen Kiemel ist Leiter der Gruppe »Nachhaltige Systemgestaltung« am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA und seit Herbst 2022 stellvertretender Zentrumsleiter des neuen S-TEC Zentrums für Klimaneutrale Produktion und Ganzheitliche Bilanzierung, kurz ZKP. Im Interview verrät der studierte Wirtschaftsingenieur, warum der Begriff der Klimaneutralität kontrovers diskutiert wird, warum es sich für (Industrie-) Unternehmen lohnt, sich nachhaltiger auszurichten und wie das ZKP dabei unterstützen kann.
Klimaneutralität ist ein wichtiges Stichwort im aktuellen Diskurs. Was genau versteht man darunter?
Klimaneutralität beschreibt das Gleichgewicht zwischen den Treibhausgasemissionen, die ausgestoßen werden und der Bindung von diesen Treibhausgasen (THG) durch geeignetes Senken. Da sich der Begriff nur auf die Wirkung der CO2-Äquivalente stützt, wird er allerdings kontrovers diskutiert. Umfassender ist unserer Meinung nach die Umweltneutralität. Neben THG-Emissionen werden dabei weitere Umweltwirkungen berücksichtigt, wie beispielsweise die Versauerung der Meere oder der Ozonabbau. Konkrete Zielstellungen existieren derzeit für die Klimaneutralität und diese stellen Unternehmen vor enorme Herausforderungen. An dieser Stelle wollen wir unterstützen.
Kannst Du uns mehr über Deinen Forschungsschwerpunkt erzählen?
Mein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Nachhaltigkeit von industriellen Produktionsumgebungen. Das schließt einen relativ breiten Themenstrauß mit ein. Ein Thema, mit dem wir uns am Zentrum für Klimaneutrale Produktion und Ganzheitliche Bilanzierung mitunter befassen, sind ökologische Bilanzierungen von Unternehmen und Produkten. Anhand dieser Analysen lässt sich erkennen, welche Klimawirkung ausgelöst wird. Das hilft unter anderem, um anhand von validen Daten sogenannte »Hotspots« zu identifizieren, also z.B. Prozesse einer Produktion, die besonders viele Emissionen ausstoßen. Daraus können wir Maßnahmen ableiten, um die Emissionsintensität zu verringern. Zudem setzen wir uns in unserer Forschungsgruppe intensiv mit dem Thema Kreislaufwirtschaft auseinander. Das heißt, wir versuchen Wege zu finden, Materialien und Produkte in einen geschlossenen Kreislauf zu überführen.
Das betrifft auch zunehmend die sinnvolle Verwendung und Verwertung biologischer Rest- und Abfallstoffe. Durch das Aufzeigen von Potentialen zur kaskadenartigen Nutzung dieser Stoffe versuchen wir eine nachhaltige Bioökonomie zu etablieren.
Dabei spielen biointelligente Technologien aus unserer Sicht eine zentrale Rolle. Der Grundgedanke von biointelligenten Technologien liegt in der Verknüpfung eines Informationssystems mit einem technischen und einem biologischen System. In der Interaktion und Kommunikation zwischen den drei Systemen liegt die Möglichkeit zur Selbstoptimierung. Solche Technologien werden bei uns am IPA im Zentrum für Biointelligente Produktion entwickelt und ganzheitlich bewertet.
Warum muss die Industrie nachhaltiger werden?
Der industrielle Sektor ist der zweitgrößte Emittent von Treibhausgasemissionen. Daher haben wir in diesem Sektor einen sehr großen Hebel, um die ambitionierten und doch mehr als notwendigen Klimaziele zu erreichen. Es gibt nicht nur rein idealistische Gründe, um proaktiv zu handeln. Schließlich ist damit zu rechnen, dass Unternehmen unter anderem durch Regularien in naher Zukunft ohnehin dazu verpflichtet sind. Zudem können Unternehmen durch effiziente Produktionsprozesse Material, Energie und sonstige Inputfaktoren einsparen. Jedes Kilo Material und jede Kilowattstunde, die nicht benötigt wird, ist aus Unternehmenssicht vorteilhaft. Durch die Stärkung der Kreislaufführung entsteht zudem Sicherheit bzw. Resilienz gegenüber Lieferausfällen. Indem regionale Kreisläufe geschlossen werden und Produkte, Komponenten und Materialien nicht verloren gehen, besteht ein geringerer Bedarf an Primärmaterial aus globalen Lieferketten. Außerdem lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit steigern. Sowohl Investor*innen als auch die nachgelagerte Lieferkette bis hin zu den Endkund*innen erwarten von Unternehmen und Produkten zunehmend, dass gewisse ökologische Standards eingehalten werden.
Wir versuchen Wege zu finden, Materialien und Produkte aus dem industriellen Umfeld in einen geschlossenen Kreislauf zu führen, sodass Rest- und Abfallstoffe sinnvoll verwertet werden.
M.Sc. Steffen Kiemel
Was hindert Unternehmen aktuell noch in Bezug auf ihre Klima- bzw. Umweltneutralität?
Das beginnt oftmals bereits beim ersten Schritt – der Bilanzierung der eigenen Umweltwirkung. Hierfür notwendige Daten und Kompetenzen liegen in vielen Fällen nicht vor. Zudem ist für viele das Thema Nachhaltigkeit – bzw. der ökologischen Aspekte davon – nicht wirklich greifbar und auf den ersten Blick mit hohen Kosten verbunden. Sich mit den eigenen ökologischen Auswirkungen zu befassen, bedeutet aber nicht per se, dass Mehrkosten entstehen. Es gibt etliche Maßnahmen, die einfach einzubinden sind und sich schnell amortisieren. Viele Unternehmen realisieren diese »low hanging fruits« nicht, obwohl das sowohl einen ökonomischen als auch einen ökologischen Mehrwert hätte. Es ist eine zentrale Aufgabe von Forschung, Politik und verschiedenen Verbänden, dafür zu sensibilisieren und natürlich weitere innovative Ansätze zur Emissionsreduktion zu entwickeln und zu fördern. Ein Wandel hin zur Klimaneutralität kann nur stattfinden, wenn Unternehmen klar wird, dass das Ganze die eigene Wettbewerbs- sowie Innovationsfähigkeit steigert. So birgt beispielsweise die Green Tech Branche ein großes Wachstumspotential. Sowohl für einzelne Unternehmen als auch für den Bund und die Länder, ist es sinnvoll und ratsam, sich in diesem Bereich strategisch zu positionieren.
Inwiefern können Unternehmen von einer Kooperation mit dem ZKP profitieren?
Die Themenschwerpunkte, die wir in unserem Zentrum definiert haben, betreffen aus unserer Sicht genau die Herausforderungen, mit denen viele Unternehmen zu kämpfen haben. Von der Erarbeitung hocheffizienter Vorgehensmodelle zur Ermittlung des Corporate- und Product Carbon Footprint und der Einhaltung von Regularien im Kontext der Material Compliance über die Identifikation innovativer Maßnahmen zur Treibhausgasreduktion bis hin zur Nutzung digitaler Tools im Bereich des Nachhaltigkeitsmanagements – für all das können wir am ZKP gemeinsam mit Unternehmen passgenaue Lösungen erarbeiten. Übrigens werden diese Projektformate vom Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg gefördert. Der Aufwand, den teilnehmende Unternehmen leisten müssen, besteht letztlich in ihrer aktiven Mitarbeit. Durch die Einbindung firmeneigener Kompetenzen und dem vorhandenen Wissen können wir relevante Resultate erarbeiten. Von den Ergebnissen einzelner Projekte sollen auch andere Unternehmen profitieren. Deshalb ist es uns ein Anliegen, Erkenntnisse in verallgemeinerter Form zu veröffentlichen und so das erarbeitete Wissen zu transferieren.
Was macht Dir am meisten Spaß an Deiner Arbeit?
Durch die anwendungsorientierte Forschung haben wir Kontakt mit vielen interessanten Menschen, von denen wir lernen können. Es ist ein ständiges Geben und Nehmen. Auch in unseren Forschungsthemen sind wir sehr vielseitig aufgestellt. Von der Klimaneutralität über die Bioökonomie bis hin zur Biointelligenz bearbeiten wir Themen, die für mich persönlich alle sehr relevant und sinnstiftend sind.